Wir befinden uns im 2. Jahrtausend n. Chr. Ganz Europa ist von handyknipsenden Pauschaltouristen und komasaufenden Partypeople besetzt. Ganz Europa? Nein! Ein von Hippies bevölkerter Ort hört nicht auf, den Ballermännern und Bettenburgen Widerstand zu leisten. Ein Ort? Nein. Es sind sogar ziemlich viele.
Nicht alle sind authentisch, manche nur mehr ein verkitschtes Klischee vergangener Blumenkinderidylle. Andere sind zwar längst kein Refugium für ungekämmte junge Menschen mit Gitarren mehr, aber doch so legendär, dass der alte Geist nicht totzukriegen ist – und manchmal wieder auflebt. An wieder anderen Orten pflegen echte Freaks und Hippies ein Aussteigertum, für das die Blumenkinder vor 40 Jahren ihnen auf die Schulter geklopft und erstmal was zu rauchen angeboten hätten.
Lifestyle-Hippieness für Teilzeitaussteiger
Zugegeben, das Valle Gran Rey auf La Gomera ist kein Geheimtipp. Trotzdem muss es einmal gesagt werden: Die Hippies waren zuerst da. Und zwar zu einem Zeitpunkt, als es auf La Gomera nur Bananenplantagen und Lorbeerwälder, Schluchten und Steinwüsten gab, aber keinen einzigen Touristen. Damals konnte es sogar richtig gefährlich werden. Kreuze am Wegesrand erinnern heute an erschlagene Hippie-Pilger. Die fielen nicht etwa feindselig gestimmten Einwohnern zum Opfer, sondern herabfallenden Steinen. Steinschlagschilder gab es damals auch noch nicht.
Quasi ein Nachlass der Hippies ist bis heute ein sanfterer Tourismus als auf den Nachbarinseln Teneriffa und Gran Canaria, mit alternativer Note in Form von bunten Bungalows und Batikshirts, Tofu und Dinkelbrot aus deutschen Reformhäusern und vielen neueren Formen von Bewusstseinserweiterung von Yoga oder Meditation über Reiki bis Shiatsu. Wem das alles immer noch zu mainstream ist, der kann sich damit trösten, dass bis heute geheime Vollmondfeste stattfinden. Wo, wissen nur Eingeweihte und Kenner. Wer eines findet oder gar eingeladen wird, darf sich eine Blume ins Haar stecken und sich als echter Hippie fühlen.
Echt aussteigen ohne Klo
Die Vollmondparty im Valle della Luna auf Sardinien ist leichter zu finden, vorausgesetzt, man findet das Valle. Der Weg zweigt irgendwo von einer Straße auf Capo Testa im felsigen Norden Sardiniens ab, und zwar quer durch die Macchia. Ein riesiger gespaltener Granitblock markiert den Eingang. Der nächste Ort ist einen ordentlichen Fußmarsch weg. Auch sonst gibt es keine Infrastruktur und nicht einmal Toiletten, sodass nur diejenigen das Valle della Luna bewohnen, die diesen Lebensstil auch wirklich suchen oder brauchen: Freaks, Künstler, spirituelle Sinnsucher, Vagabunden und Obdachlose, auch mal ein flüchtiger Sträfling. In den Felshöhlen, oft liebevoll mit Betten, Teppichen und Vorhängen eingerichtet, bleiben viele monatelang. Zum Einkaufen läuft man ins nächste Dorf – bitte den Müll mitnehmen! Wasserschleppen kann man sich glücklicherweise sparen; es gibt eine Trinkwasserquelle, die auch als Dusche dient.
Wer sich nicht gleich unter die Teilzeitaussteiger begeben will: Es gibt Ausflugsboote, die nur zur Stippvisite in die Buchten des Valle fahren, sodass man gefahrlos einen Blick auf die „Wilden“ werfen kann, ohne selbst verwildern zu müssen.
Mythos Matala
Auch in Matala auf Kreta pflegte man üblicherweise in Höhlen zu wohnen, jedenfalls bis Anfang der 1970er-Jahre die Polizei alle Bewohner vertrieb. Bis vor einigen Jahren kamen nur mehr Touristen an den Strand, um die leer stehenden Höhlen zu besichtigen und sich vorzustellen, wie es wohl gewesen sein mag Ende der 1960er-Jahre, als die Jugend hier einen Zwischenstopp einlegte auf dem Weg nach Goa oder Kathmandu, ums offene Feuer saß, mit Menschen vieler Nationen Retsina trank, vielleicht sogar mit Joni Mitchell, die – anders als Bob Dylan und Cat Stevens, wie der Mythos behauptet – damals wirklich einmal ein paar Tage hier war.
2011 ereignete sich ein kleines Wunder. Der Autor und Journalist Arn Strohmeyer gab den Fotoband „Mythos Matala“ heraus und plante dafür eine Präsentation vor Ort. Daraus entstand dann etwas mehr, nämlich das Hippies Reunion Matala Festival mit 40.000 Besuchern. Auch viele Althippies kamen, um den Spirit noch einmal zu spüren, ihre Höhle von damals noch einmal zu sehen. Seither findet das Malata Beach Festival jährlich statt, Love und Peace sind natürlich auch dabei.
Rechtsfreier Raum
Ernster und naturgemäß etwas chaotisch wirkt die riesige 900-Einwohner-Kommune Cristiana in Kopenhagen. In den 1970er-Jahren besetzten ein paar Hippies die Gebäude einer ehemaligen Kaserne und riefen den Freistaat Cristiana aus. Der ist bis heute ein quasi rechtsfreier Raum, in dem dänische Gesetze nicht gelten – und auch nicht durchgesetzt werden könnten. Harte Drogen und Fotografieren sind verboten, weiche Drogen und fast jede Form von Anderssein sind erlaubt. Die Bewohner organisieren sich hier mittlerweile in der dritten Generation selbst und brachten im Jahr 2012 die nötigen zehn Millionen Euro auf, um dem dänischen Staat einen Teil des Gebiets ab- und lebenslanges Wohnrecht zu erkaufen.
Bei Touristen ist Cristiana beliebt, der Ort zählt zu den am häufigsten besuchten Sehenswürdigkeiten. Über dem Eingang steht: Sie verlassen jetzt die EU. Ein wenig fühlt es sich auch so an.
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von Gundi Herget