Sibirien

Unterwegs mit der Transsibirischen Eisenbahn
Unterwegs mit der Transsibirischen Eisenbahn

Nach zwei Tagen schon fühlt es sich an, als würde ich für immer und ewig in diesem Zug sitzen, aus Zugfenstern schauen, essen, schlafen, Kaffee trinken, Zähne putzen, mich mit Händen und Füßen mit meinen Mitreisenden verständigen, in den Zwischenräumen zwischen den Waggons eine Zigarette rauchen, mich waschen auf den immer wunderbar sauberen Zugtoiletten. Ich rede, denke, atme, lebe in einem Zug.

Rollendes Bett, rollendes Bad, rollendes Restaurant, rollendes Sein, und während man denkt, schläft, isst und aus dem Fenster sieht, schaukelt sich der Zug immer tiefer in den endlos großen Kontinent hinein. Die Welt hat keinen Anfang und kein Ende, solange der Zug fährt. Und er fährt und fährt und fährt, also wird sie wohl wirklich kein Ende mehr haben, die Welt, sonst müssten wir ja irgendwann einmal dort ankommen.

Jeden Tag scheint die Sonne ins Abteil, schon morgens. Die Abteile sind in Fahrtrichtung rechts, die Gänge links, und wir fahren von Westen nach Osten. Das bedeutet Südsonne von morgens bis abends. Ich bin entzückt, sitze mit hochgeschlagenen T-Shirt-Ärmeln und hochgekrempelten Hosen da und sonne mich Ende Oktober in einem russischen Zug. Beeindruckender Kontrast dazu sind die Nächte. Denn sie sind kalt, eine klare, nackte, aber noch schneelose Kälte, die den sibirischen Winter schon erahnen lässt.
Es ist aufregend, nachts wach zu sein und in die Dunkelheit vor dem Fenster zu schauen. Bei jedem Stopp zieht es mich nach draußen, denn jeder Bahnhof ist anders, und mit jedem neuen Halt fühle ich mich weiter weg von zu Hause. Die Bahnsteige sind nur schwach beleuchtet, die wenigen Menschen dunkel gekleidete, gesichtslose Unbekannte, von denen ich nichts weiß und niemals etwas erfahren werde.

Abweisend sind sie, diese sibirischen Bahnhöfe. Sie strahlen Einsamkeit aus, so groß wie das Land selbst, und es ist gut, dass der Zug da steht und auf einen wartet, warm, hell und gemütlich und voller hilfsbereiter Schaffnerinnen. Ich muss jedes Mal aussteigen, um zu spüren, wie groß und unbekannt es ist, das nächtliche Sibirien. Im Hintergrund steht schwer und warm mein rollendes Zuhause und wenn ich die Treppe auf den Bahnsteig hinuntersteige, fühle ich mich wie ein Kind, das sich von der Mutter entfernt, aber nicht zu weit.

Aus dem Bett komme ich morgens immer schwerer. Das liegt aber nicht an den nächtlichen Bahnsteigeskapaden, sondern vor allem daran, dass jeder Tag nur noch zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Stunden hat. Man fährt der Sonne entgegen, und jeden Morgen wache ich eigentlich früh auf und habe trotzdem eine Stunde verloren, sie ist einfach weg, verloren gegangen zwischen den Schienen.

Ab und zu drosselt der Zug seine Geschwindigkeit und fährt in eine Stadt hinein, die noch dünn ist an den Rändern, und sich verdichtet, je weiter wir in sie hineinfahren. Bis wir am Bahnhof sind, dem Herz jeder Stadt. Dort werden uns die Babuschkas erwarten, die lieben alten, großmütterlichen Frauen mit ihren sieben Röcken und ihren Schüsseln, Körben und Tüten, in denen sie transportieren, was auch immer sie entbehren können, um es an die Reisenden zu verkaufen, wenn die Transsib kommt. Immer stehen sie da, auch morgens um drei.

Ich kaufe Piroggen, weiche, leicht salzige Teigtaschen; wenn man hineinbeißt, ist Lauchgemüse oder Kartoffelbrei drin. Sie sind so frisch gemacht, dass ihr Inneres noch warm ist. Die Kartoffelbreipiroggen sind eine Köstlichkeit, sie schmecken nach kalten sibirischen Wintern, nach warmer Stube als einzigem beheiztem Raum, in dem gekocht, gegessen und geschlafen wird, nach Behaglichkeit, nach bescheidenem Leben und nach russischer Großmutter. Und nach einer Armut, die nicht zu verstehen ist. Deshalb schmecken sie immer ein bisschen traurig.

Die Blinis, zu kompakten Quadraten gefaltete Pfannkuchen, die mit einer leicht süßen, trocken-bröseligen Mischung aus Quark und Käse gefüllt sind, schmecken fröhlicher. Sie haben die Gabe, mich aufzumuntern, wenn ich nach den Kartoffelteigpiroggen traurig und wehmütig bin und so gerne das Leben verstehen würde, in dem sie gebacken wurden. 

Einmal schmerzt es sehr. Es ist schon Abend, ich bin wie immer ausgestiegen, um Piroggen und Blinis zu kaufen. Man muss kein Russisch können, die Babuschkas auf dem Bahnsteig merken auch so, mit wem sie ein ein Geschäft machen können, und so bin ich bald umringt von vielen hoffnungsvoll-freundlichen Gesichtern, und viele Hände strecken mir Schüsseln und Körbe entgegen. Einer Frau kaufe ich ein paar Piroggen ab, und weil es mir immer wieder so elend ist bei dem Gedanken, wie diese Frauen bei jedem Wetter, auch in eisiger Kälte, und zu jeder Uhrzeit auf den Bahnsteig laufen, um dort das wenige zu verkaufen, das sie entbehren können, habe ich mir vorgenommen, ein paar Kopeken mehr zu bezahlen. Die verlangten Preise kommen mir angesichts der Armut der russischen Großmütter ohnehin vor wie ein schlechter Scherz auf Kosten der Menschen, fünfzig Pfennig für fünf Piroggen, in etwa. Ich gebe der Verkäuferin mehr Münzen als sie verlangt, sie schaut auf das Geld, und ganz empört schüttelt sie den Kopf, protestiert lautstark und gibt nicht eher Ruhe, bis sie mir, was zu viel war, Münze für Münze zurück in die Hand gezählt hat. Dabei ist sie nicht beleidigt, ich habe sie in keinem Stolz gekränkt. Nein, sie wollte sich ganz einfach nicht an mir bereichern. An der ahnungslosen Ausländerin, die kein Russisch spricht und sich scheinbar mit dem Rubel nicht auskennt.

Bei einer sehr alten Frau, deren Gesicht fast nur aus Runzeln besteht, werde ich meine traurige Spende doch noch los, denn ich lege ihr einfach alle meine Münzen in die faltige Hand und drücke ihre Finger zusammen, bevor sie nachzählen kann. Dann gehe ich ganz schnell zurück in den Zug und breche in Tränen aus. Sie gehen mir so ans Herz, diese freundlichen, tapferen Frauen. Die ganz still und bescheiden und von allen vergessen am kalten Ende der Welt leben und dort immer, wenn der Zug kommt, dick verpackt in Röcke und Mäntel und Kopftücher zum Bahnsteig eilen. Gleichzeitig schäme ich mich für meine, wie ich es empfinde, banale westdeutsche Sentimentalität. Und es ist ein merkwürdiges Sehnen in mir. Ich würde so gerne mitgehen mit diesen Frauen, mit ihnen sprechen, sehen wie sie leben, ihre Geschichten hören und ihre Piroggen essen.

Das alles ist lange her. Eines Tages, wenn er groß genug dafür ist, möchte ich diese Reise mit meinem Sohn wiederholen. Wir werden im Zug essen, schlafen, spielen, uns die Zähne putzen und aus dem Fenster sehen. Die Babuschkas werden da sein. Wir werden ihnen Blinis abkaufen und Piroggen und ich werde meinem Sohn erklären, warum die Piroggen traurig schmecken. Vielleicht können wir mitgehen und sehen wie sie leben, die russischen Großmütter. Ich bin sicher, wir wären willkommen.


von Gundi Herget

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