Livigno ist ein kleines Wunder. Vor einigen Jahrzehnten noch im touristischen Dornröschenschlaf gelegen, hält es heute alle Trümpfe in der Hand. Die sind vor allem sportlicher Natur und rufen Hobby-Athleten wie Profi-Sportler, bewegungsfreudige Familien wie Aktiv-Hungrige auf den Plan. Wir haben vor Ort recherchiert und finden: Die Vielseitigkeit ist enorm.
Erste Einstellung: Livigno, 1950
Wir befinden uns in einem kleinen, lang gestreckten Dorf mitten in den Alpen, durch zwei hohe Pässe im Winter völlig abgeschnitten vom Rest der Welt. Die stattliche Meereshöhe von 1816 Metern sorgt für anspruchsvolle klimatische Bedingungen; die bäuerlichen Erträge sind karg. Winzige Rüben sind das einzige hier oben gedeihende Gemüse. Weil viele Landwirte nur eine einzige Kuh besitzen, deren Milch oft nicht für die Käseherstellung ausreicht, wird 1954 eine genossenschaftliche Molkerei gegründet, die Latteria, wo es auch heute noch hervorragenden Käse und andere Molkereiprodukte zu essen und zu kaufen gibt. Immerhin erhielten die Livignaschi, wie die Bewohner Livignos genannt werden, bereits unter Napoleon eine Steuerbefreiung auf Salz, Zucker, Mehl und andere Grundnahrungsmittel – nicht aufgrund ihrer bitteren Armut und Isolation im Winter, wie man einst angenommen hatte, sondern weil eine konsequente Zollkontrolle an den vielen potenziellen Grenzübergängen wesentlich teurer gekommen wäre. Dieses Abkommen wurde von Österreich-Ungarn und später dann Italien und der EU anerkannt und sorgt heute als Zollausschlussgebiet für attraktives Duty-Free-Shopping. Allein an Sportgeschäften zählt man hier über 26 ...
Mit dem Bau des Staudamms am heute neun Kilometer langen Lago di Livigno entstand schließlich eine witterungsunabhängige Tunnelanbindung an die Schweiz, die im Jahr 1971 eröffnet wurde. Diese brachte neben den Schnäppchenjägern auch vermehrt Skitouristen hierher, die den Ruf der weiten baumfreien Hänge Livignos in die ganze Welt hinaus trugen – und es auch heute noch tun.
Wir springen in das Jahr 2005:
Livigno wird als Austragungsort für die 18. Mountainbike-Weltmeisterschaft auserkoren. Die Infrastruktur ist durch die Skilifte zu einem großen Teil schon vorhanden, die Bedingungen sind ideal. Der Sport schlägt ein, der Downhill-Traum Mottolino Bike-Park spricht sich in der Szene schnell herum. Seitdem werden jährlich neue Trails gebaut. 2015 folgt mit dem gegenüber liegenden Carosello 3000 ein weiterer Bike-Park mit raffinierten Flow-Strecken, eingebettet in ein Panorama, das nur schwer zu toppen ist. Die Aussicht reicht bis zum vergletscherten Ortler-Gebiet, die Bikestrecken durchfahren sämtliche Vegetationszonen von steinig-alpin über wurzelig-waldig bis lieblich begrünt. Auch für mountainbikegewöhnte Kinder ist eine Route – „Bike Academy“ – mit allerlei technischen Spielereien dabei, sodass die ganze Familie hier zum Fahrspaß kommt.
Neben den Bike-Parks sorgen Seen, Almen und Alpentäler für eine ganze Menge weiterer Trails, die die Landschaft zum Erlebnis werden lassen – „feel the Alps“ heißt das in Livigno. Das Wunderbare daran: Kaum lässt man die letzten Häuser hinter sich, umgibt einen hochalpine Szenerie, für die man sonst viele mühevolle Bergauf-Höhenmeter investieren muss. Und ganz egal, für welches Seitental man sich entscheidet: Überall gibt es putzige Murmeltiere, bunte Alpenflora fürs perfekt colorierte Selfie und urige Sennereien mit schmackhaftem Käse. Die sanften Anstiege sind für die ganze Familie machbar; wer hoch hinaus will, ist entweder trailgeübt oder steigt auf den Fuß-Modus um und macht eine Bike&Hike-Tour draus.
Reine Spazierfahrten oder kurze Spritztouren sind auf dem perfekt ausgebauten Radweg auf der gesamten Länge des Tals möglich, der außerdem noch mit idyllischen Rastplätzen, Kunstobjekten und allerlei Abwechslung verführt.
Und wie sieht es im Jahr 2018 aus?
Etwa in der Mitte des lang gezogenen Tals sticht ein geheimnisvoller weißer Hügel ins Auge, mit Stoffbahnen bedeckt. Es ist der Schnee, den die Livignaschi mit Sägespänen für den Sommer konservieren, genauer gesagt für eine ganz besondere Tradition, die Ende August eines jeden Jahres zelebriert wird: Der „Palio delle Contrade“ ist ein Langlaufwettbewerb in der Innenstadt, an dem ausschließlich Einheimische teilnehmen dürfen. Die einzelnen Stadtteile treten in dieser „District‘s Trophy“ – zum Teil in Tracht – gegeneinander an. Zuschauen ist natürlich auch den Touristen erlaubt und ein Heidenspaß, wenn die Läufer im Hochsommer mit T-Shirt und kurzer Hose, aber Langlaufskiern an den Füßen um die Wette rennen.
Typisch Livigno, mag man da behaupten: traditionsbewusst, aber neuen Dingen immer aufgeschlossen und vor allem experimentierfreudig. So schaltet man in Livigno zum Beispiel in der Nacht des 10. August sämtliche elektrischen Lichter ab: San Lorenzo, die Sternschnuppen-Nacht, lädt so zur perfekten Finsternis ein. Irgendein spannendes Event gibt es immer. Vielleicht auch gerade den ICON Livigno Extreme Triathlon: 195 Kilometer und 5000 Höhenmeter mit dem Rad, 3,8 Kilometer zum Schwimmen und 42,2 Kilometer die Laufstrecke. Auch das ist für die meisten eher was zum Zusehen ... Durch die hohe Lage von exakt 1816 Metern (auch ein hervorragendes Bier selbigen Namens gibt es übrigens!) finden zahlreiche Profi-Athleten hier ideale Voraussetzungen für ein Höhentraining, das für vermehrte rote Blutkörperchen sorgt – 100% legales Doping.
Und noch eine Sache ist da, die den Menschen in Livigno angeboren scheint: Gastfreundschaft, die hier mehr ist als ein Schlagwort, das ein serviceorientierter Touristiker verinnerlicht hat. Als Besucher fühlt man sich überall gut aufgehoben und ist immer wieder positiv überrascht von der unaufgeregten Art, seine Gäste zu verwöhnen.
Sportliche Abwechslung
Mountainbiken und Skifahren werden in Livigno zwar groß geschrieben, sind allerdings längst nicht die einzigen Sportarten, die man in der 6.500-Seelen-Gemeinde ausüben kann. Hinzu gekommen ist ein Potpourri an Möglichkeiten, der selbst Couch Potatoes hinterm Ofen hervorlockt. Da wären zum Beispiel der sehr abwechslungsreich gestaltete Hochseilgarten Larix Park, der lustige Zip Lines schon für die Jüngsten bietet, während sich die Wagemutigsten in tollkühnen Sprüngen am Tarzanseil üben können. In luftigen Höhen von bis zu 22 Metern tänzelt (oder eiert) man in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden zwischen alten Lärchenwipfeln herum. Auch hier gibt es jedes Jahr eine neue Route mit neuen technischen Kniffen und Herausforderungen.
Wer vom liebevoll angelegten Tal-Radweg nicht zum Biken animiert wird, schnallt sich vielleicht Inline Skates unter die Füße, um auf dem glatten Asphalt dahinzurauschen. Auch professionelle Langläufer nutzen die Strecke für ihr Sommertraining.
Weiters finden Reiter ebenso eine Möglichkeit zum Aufsitzen wie beginnende Golfer hier ein Übungsgelände finden; für Kletterer gibt es einen Turm mit Routen für alle Niveaus; in den Felsen der näheren Umgebung finden sich außerdem rund 200 Sportkletterrouten. Nicht zuletzt bietet der Lago di Livigno Kanada-Feeling pur – zu erleben am besten per Kajak oder Tret-/Ruderboot, wenn man das Ufer hinter sich gelassen hat.
Was tun bei Regen?
Livigno kann nicht nur outdoor, sondern auch indoor. Bestes Beispiel ist das erst 2014 neu eröffnete Freizeitbad Aquagrande, das in die Bereiche Wellness & Relax, Slide & Fun und Pool & Fitness unterteilt ist und optisch sehr ansprechend sowie durchdacht gestaltet ist. Für Kinder gibt es einige Rutschen zu Auswahl – lieber durch die dunkle oder die gestreifte Röhre? –, während Erwachsene den hellen und freundlichen Wellness-Bereich schätzen.
Ebenfalls einen Besuch wert ist das Heimat-Museum MUS!, das anschaulich macht, wie rasant sich das Leben im Tal von Livigno über die letzten Jahrzehnte verändert hat. Die Räume in dem historischen Haus sind eingerichtet wie anno dazumal; die Erläuterungen dazu gibt es auch auf Deutsch. Verbunden werden alle Orte im Tal übrigens mit kostenlosen Bussen, die in kurzen Abständen die Gäste in die gewünschte Richtung befördern.
Und was bei Schnee?
Livignos Vorzüge als Skigebiet zu preisen, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Die internationale Gästeliste reicht bis Russland und Südafrika. 115 Pistenkilometer und 31 Liftanlagen sprechen allein schon für sich und erzählen noch nichts von dem grandiosen Panorama, das sie umgibt. Abseits der Pisten eröffnet sich für Freerider eine ganze Palette an Möglichkeiten. Einige Touren-Abfahrten werden täglich überprüft und dann von offizieller Seite als „lawinensicher“ freigegeben. Weitere Auskünfte gibt es jeden Nachmittag über die Bergführer-Info. Für Langläufer wird der gut 18 Kilometer lange Radweg im Tal zur Langlaufloipe umfunktioniert.
ine besondere Kombination aus Schnee und Bike bieten die Fatbike-Touren im winterlichen Ambiente. Mit den dicken Reifen lässt es sich auch auf Schnee gut vorwärts kommen und Bike-Feeling erhaschen mitten im Winter. Der in Livigno übrigens ganz schön lange dauert: Die Skisaison geht in der Regel von Anfang November bis Ende Mai (mit kostenfreien Skipässen zu Saisonbeginn und -schluss bei entsprechenden Übernachtungen). Und wenn der Schnee mal auf sich warten lässt? Dann heißt es bei den Einheimischen: „La néf al l‘è mai magliéda al lófi“ – „Den Schnee hat noch nie der Wolf gefressen“, sprich: Er ist noch immer gekommen. Und Schnee gibt es dann meist mehr als genug. So viel, dass die Livignaschi auch im August noch davon zehren können.
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von Solveig Michelsen
Diese Recherchereise wurde zum Teil unterstützt von APT Livigno.