... Wandern: Den Göttern ganz nah

 

Und am Grund ein Urwald

Spätestens nach einer Dreiviertelstunde plätschert unter einer alten Platane die Quelle Neroútsiko, und immer dichter rücken die hell schimmernden Felswände zusammen. Ein klarer Bach weitet sich am Boden der Schlucht immer wieder zu kleineren Teichen, führt dann zum Kapellchen Agios Nikolaos, an dessen Stelle früher das Apollo-Orakel der dorischen Stadt Kainó Wanderer angelockt hat. Ein Urwald aus Zypressen, Platanen, Eichen, und Pinien verdichtet sich zu beiden Seiten des Gebirgsbaches. Dazwischen leuchten Pfingstrosen, und räkeln sich ausgeschwemmte Wurzeln. Kretas älteste Zypresse mit einem gewaltigen Stammumfang von sieben Metern erinnert hier an die frühen Holzimporte Richtung Knossos.

Nadelöhr der Geologie: Die drei Meter engen „Portes“

Noch spektakulärer wird die Landschaft der 18 km langen Schlucht nach der Siedlung auf halbem Wege. Längst ist das Wasser wieder aufgetaucht zwischen den rund geschliffenen Steinen und gewaltigen Felsbrocken, die im Frühjahr von den Steilwänden herunterdonnern. Doch nun rücken diese immer enger zusammen, zu einer zuletzt bloß noch drei Meter breiten Ritze. Die „Portes” (Tore) sind das klassische Fotomotiv der Samaria-Schlucht. Wer sich bei mitunter hüfthohem Wasser durch den 300 m hohen Spalt zwängt, hat zwei Drittel des Weges bereits hinter sich.

Stacheliger Garten Gottes

Nicht alle Wege durch Kretas Bergwelt sind so eindeutig, wie der durch die Samaria-Schlucht. Immer wieder verunglücken und verdursten Wanderer in den labyrinthischen Steinwüsten der Lefka Ori, in den Rückzugsgebieten der Steinhühner, Gänsegeier oder Steinadler. Ganz oben türmen sich bloß noch Geröll und die steinigen westkretischen Kegelberge, die weiter unten in eine Zone von lockerer, stacheliger Kugelpolstervegetation, später in spärliches Krummholz, dann in lockere Nadelwälder voll Aleppokiefern und eigenwillig horizontal wachsender Zypressen übergehen.

Die Sommerweiden der Blumen

Wegen der starken Überweidung haben sich interessante botanische Verhältnisse rund um die 1500 auf Kreta vertretenen Pflanzenarten entwickelt. Seltene Pflänzchen sprießen da in schwer zugänglichen Felsritzen, die strauchige Nelke etwa. In tieferen Lagen, unter der 1000-m-Grenze, ist der gelbe Stechginster anzutreffen, während das schlanke aber auch giftige Liliengewächs Affodill ganze Fluren bedeckt. Über 70 Wildorchideenarten überlebten zwischen den Stachelpolstern, und auch die Blumen haben ihre Sommerweiden: Was im Frühjahr noch direkt an den Küsten blüht und sprießt, „wandert” mit fortschreitender Jahreszeit immer höher ins Bergland hinauf. Diese Regel gilt für den rosaroten kretischen Silberklee und die weißen Sterne der Strandlilien ebenso wie für dunkelblaue Lupinen, goldfarbene Margariten, weiße Asphodelen und lila Anemonen.